21 chapters – 6/21

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"Kunst oder Risiko?"

Als ich den Deckel der kleinen Blechdose abziehe, schaue ich direkt auf ihren Boden. Ein paar feine, schwarze Reste hängen noch in vier Ecken, gemeinsam würden sie nicht einmal einen kleinen Löffel ergeben. Es ist der erste Morgen ohne Kaffee, dafür mit nassen Haaren und dem ersten, echten Gewitter, das ich in Mpumalanga erlebe. Ich habe mir meine Haare in ein Handtuch zum Turban gebunden, den Hoodie über die Handballen gezogen und noch im Bad das einzige Paar Wollsocken angezogen, das ich in meinem Koffer fand.

Als gestern Abend der Wind auffrischte und sich die großen, quellenden Kumulonimben über dem See aufrichteten und den Wetterwechsel ankündigten, liefen wir noch barfuß über das feuchtwarme Gras, um das Kanu sicherheitshalber aus dem Wasser zu ziehen. Stunden später fiel die Temperatur um fast 15°C. Als ich eines der kleinen Fenster über der Küchenzeile aufschieben will, um frische, ausgleichende Luft gegen die beschlagenen Scheiben in das Bootshaus zu lassen, schlagen mir Wind und Regen sofort ins Gesicht. Ich kneife die Augen zu und lasse das Scharnier wieder fallen.

Strom haben wir im Moment nicht, auch keine mechanische Möglichkeit die Kaffeebohnen zu mahlen. Als der Kessel pfeift nehme ich ihn von der Flamme und gieße das heiße Wasser in eine Kanne. Drei Beutel hängen darin, ich habe sie eben im Küchenschrank gefunden, five roses , frischer Ceylon-Tee als ewige Alternative.
Ich mag den leicht herben, malzigen Geschmack des Ceylons – und die leise, unterschätze Konstante, die er mitbringt. In beinahe jedem südafrikanischem Haushalt, selbst in Hotelzimmern oder Apartment findet sich in irgendeiner Ecke dieses charismatisch rote Päckchen mit den kleinen Beuteln voll schwarzem Tee. Er ist ergiebig, unempfindlich gegen lange Lagerzeiten, gegen Temperatur oder selbst hartes Wasser. Mit ein bisschen Milch wird er milder. Und während er für die meisten Südafrikaner wahrscheinlich nur gewöhnlich ist – erinnert er mich immer noch, mit jedem Schluck, an meine erste Reise nach Südafrika, an die frühen game drives durch den Busch, und die Sonnenaufgänge im Madikwe Reserve, an die frische Morgenluft in De Hoop letzten September erst –  oder an die Regenwettertage in Kapstadt, als ich gerade erst auf die Longstreet gezogen war, im Fenster saß und trotz all dem Grau überglücklich war, nicht aufhören konnte hinzuschauen, mich nicht satt sehen konnte an diesem Ort. Das ist noch immer so.

Ich bleibe im Türrahmen stehen, schaue auf die Rinnsale an den Scheiben, auf das Bett direkt darunter und ihn, der wieder eingeschlafen ist. Das ist noch so ein Moment, der sich in meiner Tasse fängt, bleiben wird. Lange. Egal wie er ausgeht, wie lange er dauert. Egal wie wir uns entscheiden, wenn wir können.
Vielleicht ist es die schönste Kunst und das größte Risiko am Erinnern, die Vergangenheit nicht mit der Gegenwart oder sogar der Zukunft zu verzerren. Zu isolieren, was sich nicht ändern soll – aber wird, nur um es für einen Augenblick zurückholen zu können, wenn es schon längst vergangen ist.

48 hours to go

Ich sammle die losen Blätter neben dem Bett auf, greife nach meinem Handy und einer Decke. Dann setze ich mich zurück an den Küchentisch und sortiere die Gedanken, die ich gestern Abend auf College-Papier geschrieben und dann herausgerissen hatte. Ich hatte nicht an einem neuen Kapitel, sondern an sie geschrieben. Ich hatte es versucht. Erst lange getippt und dann doch den Stift genommen. Und gezögert. Zurück in Hamburg hätte ich um 02:00 Uhr vermutlich all das abgeschickt, was mich nicht zur Ruhe kommen ließ. Hier –  legte ich mich schlafen.

Nicht weil ich nicht wusste, was ich sagen, erklären, vielleicht sogar rechtfertigen wollte, sondern weil ich nicht mehr sicher wusste, wie wichtig es eigentlich war, dass ich es tat,  aussprach.
Was zählt? Das was war – oder das was ist. Und jetzt, wo sie weiß, wie es war – bestimmt es was ist?

Zuletzt hatten wir vor ein paar Tagen gesprochen, vor dem Lockdown, als ich noch irgendwo auf der N1, im Free State unterwegs war. Sie rief nie einfach so an. Sie telefonierte nicht gern. Niemand schien das mehr zu tun, Als ich abnahm, hatte ich Angst, ihr könnte etwas passiert sein. Als ich endlich verstand, was sie da sagte, als ich irgendwie fassen konnte, was ich hörte – begriff ich, dass ich es gewesen war. 
Irgendwann brach die Verbindung zwischen uns ab. Ich nahm das iPhone vom Ohr. Kein Empfang mehr, ich sprach ins Nichts. 
"Ich melde mich später noch einmal", war das Letzte, was ich las.
Seit dem türmte sich die Stille. 

„Ich vermisse dich. Du fehlst mir sehr.“, schicke ich ab.
Das war schon mal Vergangenheit. Ist Gegenwart. Und bestimmt auch Zukunft.
Und es ist alles, was ich gerade gesagt wissen muss.

***

Der letzte Schluck Tee in meiner Tasse ist kalt, die Nachricht gelesen. Es ist still geworden, in meinem Kopf. Und heller da draußen. Noch beweisen die glasigen Tropfen am Geländer und in den Zweigen den Guss der letzten Stunde, der so unbespochen geendet hatte. Gleich wird nichts mehr davon übrig sein. Ich ziehe die Socken aus und laufe auf das feuchte Deck. Das Gewitter hängt noch zu einem Drittel über Chrissiesmeer, löst sich noch nicht auf, macht nur Platz für klare Luft. Ich atme ein.

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Comments

  • Liebe Lina, du hörst das wahrscheinlich ständig, aber wow, du schreibst so wunderschön und bildlich. Danke, dass du deine Gedanken und Erlebnisse so ehrlich mit uns teilst.

  • Jedes Mal, wenn ich eines der neuen Kapitel lese, überkommt mich dieses Gefühl. Ich hätte es so gerne in der Hand, als ein gebundenes Werk, als Etwas was ich anfassen und auf meinen Nachttisch legen kann. Mit all den wunderschönen Fotos, mit all den getippten Wörtern, die bei allen Lesern eine Gänsehaut auslösen und all den Gefühlen, die so viele von uns nachempfinden, nachfühlen können. Wie gerne würde ich manche Passagen mit einem Stift unterstreichen, mit keinem Marker oder Kugelschreiber, sondern mit einem weichen Bleistift, aus Angst, ich könnte die Seiten „verletzen“. Und jedes Mal, wenn mir ein Gedanke kommt, könnte ich danach greifen, die Seiten aufschlagen, blättern, fühlen.
    Also was denkst du Lina? Vielleicht eines Tages?

  • Jedes Mal, wenn ich etwas von dir lese überkommt mich dieses warme Gefühl im Bauch, wie wenn man einen heißen Tee trinkt. Es ist einfach wunderschön geschrieben. Ich fühle so sehr mit dir.

  • Liebe Lina, ich liebe diese Reihe sososo sehr, auch und weil wir wieder so regelmäßig von dir lesen dürfen. Jedes Mal taucht man kurz ein und ab und bekommt einen Ausstieg aus der Realität. Ich lieb’s sehr! <3

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