21 chapters – 12/21

12/21

Eine schöne Belohnung, neben dem Ausblick, neben der Stille

Der Kaffee in meiner Hand ist noch zu heiß um ihn zu trinken, ich puste vorsichtig über die Oberfläche, solange bis ich zumindest einen kleinen Schluck nehmen kann. Dann rufe ich ihren Namen, pfeife gleich zweimal, bis sie zu mir kommt. Gemeinsam laufen wir los. Gut fünfzehn Minuten Weg sind es, bis wir die Sandsteinhänge erreichen, vielleicht auch nur 900 Meter, wenn wir direkt darauf zulaufen, querfeldein gehen, statt entlang des Pfades, der sich am kleinen Seeufer gefestigt hat.

Ich mag diese kleinen Spaziergänge, die ich allein unternehme, während er zeichnet, fischen geht, manchmal den Abwasch macht oder einfach nur auf der Terrasse sitzt, es ist die Zeit, die ich für mich habe, in der ich einfach nur einen schritt vor den anderen setze, meinen Kopf anstrenge oder zur Ruhe kommen lasse, in denen ich, wenn ich mich einmal um meine eigene Achse drehe, nirgends auch nur einen Menschen sehen kann – und allein bin. Zwar immer noch fremd hier, in dieser Umgebung, immer noch Gast auf dieser Farm, aber allein. Ich bin auf unbestimmte Zeit hier. Aber jetzt bin ich bestimmt ganz allein.

Zumindest so lange, bis der Empfang einsetzt. Erst gestern fand ich, als ich für ein Foto auf einen der Hänge kletterte, eher zufällig heraus, dass ich dort oben sogar zwei oder drei Balken LTE empfangen konnte. Ich setzte mich in die Sonne, beantwortete ein paar Nachrichten, konnte sogar kurz mit Freunden telefonieren und meine E-Mail checken, mir selbst ein gutes Gefühl durch ein aufgeräumtes Postfach geben und dann das Handy wieder ausschalten. Das war eine schöne Belohnung für diesen kleinen Spaziergang gewesen, neben dem Ausblick, neben der Stille.

Zeit hat hier keinen Wert. Ist das der vielleicht wertvollste?"

Matotoland, ist noch heute der inoffizielle Name, den einst die Siswati für das Gebiet um den langgezogenen See und die Graslandschaft prägten, durch die ich gerade gehe. Froschland, heißt das übersetzt. Mehr als 250 verschiedene Seen gibt es hier, mehr als 20000 Flamingos brüten während des Frühlings in der Nähe, von denen wir aber noch keinen einzigen gesehen haben. Die Frösche sind immer da. Und damit auch viele andere Vögel.

Im Bootshaus liegt ein altes, abgegriffenes Taschenbuch mit dem Titel „How to be a bad bird watcher“, ich habe es bisher nur durchgeblättert, aber im Grund beschreibt Autor Simon Barnes darin, das Vögel zu beobachten kein Hobby für alte, weiße Männer in beigefarbenen Westen sein sollte, die das Geld ihrer Pensionszahlungen in Teleobjektive investiert haben und Vögel nicht mehr sehen, sondern nur noch abhaken, fotografieren und in digitalen Ordnern ablegen – sondern, dass eine unerwartete, gute Beobachtung von so etwas Vergänglichem, wie einem fliegendem Vogel am besten dann passiert, wenn man sowieso gerade mal wieder ein bisschen Zeit damit verbringen wollte, einfach still in den Himmel zu schauen.

Und das tue ich jetzt, ziehe meine Strickjacke aus, lege sie mit unter den Kopf und strecke mich auf dem trockenen Sandstein aus. Der Hund läuft weiter, verschwindet im hohen Gras. Ich weiß, dass sie in zehn Minuten zurückkommt, sich neben mich legt, sich mit mir sonnt und abwartet, dass wir gemeinsam wieder zurück nach Hause laufen.

Ich bleibe so lange auf dem Rücken liege, schaue so lange den ziehenden Vögeln zu, bis ich ihre Unterschiede erkenne. Bis sie nicht mehr zwei Flügel und ein kurzer Moment, sondern verschiedene Farben, Formen, Geräusche sind, bis ich manche wieder kenne, mir sogar manche ihrer Namen wieder einfallen.

Ich bin es gewohnt, dass mein Interesse ausschlägt, sich schlagartig zeigt, nicht langsam setzt. Interesse braucht in meiner Welt, in meinem Alltag nur Sekunden, keine Zeit. Ich investiere meine Zeit nur selten in Dinge, von denen ich nicht sofort weiß, dass sie mich begeistern könnten. Ich suche nach Funken und dann entzünde ich sie und mich. Ich koste Begeisterung aus, ich pflücke ihre manchmal große Euphorie ab und sauge sie auf, aber ich pausiere nicht, für das kleine Interesse.

Aber hier, hier habe ich Zeit zu vergeben und verliere sie dabei nicht. Zeit hat hier und jetzt, in diesem Lockdown, in dieser Umgebung keinen Wert und damit vielleicht einen unschätzbaren= Ich habe sie, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren, einfach über. Ohne, dass ich sie dabei verschwende, ohne dass ich sie besser hätte nutzen müssen, ohne dass ich mehr Bücher hätte lesen sollen, an dem Re-Design meines Blogs hätte arbeiten, diese eine Dokumentation, die schon ewig in meiner Liste hängt, schauen oder endlich mal meinen Schrank sortieren, endlich Sticken lernen oder den Sonnenuntergang vom einem Dach sehen und fotografieren können. Ich weiß gar nicht an wie vielen Sonntagen ich eigentlich so viel Zeit, für so vieles hatte, dass ich sie am Ende für gar nichts nutzte und das nicht einmal genoss. Aber in einer Welt, in der ich gerade gar nichts tun kann, in einer Umgebung, in der es keinen Strom, kein Netflix, kein Wi-Fi, nur drei Bücher, ein Backgammon Spiel und mein Tagebuch gibt, ist gar nichts tun – gerade leicht. Und während ich gar nichts tue – ergibt sich der Rest. Während ich gar nichts tue, nur ab und zu einen Schluck Kaffee trinke und die Tasse dann wieder abstelle, kommt so viel Vergessenes zurück. Wie leises Interesse, wie Vogelnamen, die ich vor 20 Jahren mal von meinem Opa lernte. Oder Entspannung. Ruhe vor allem.

Zwei E-Mails, ein Anruf

Ich werde wach, als mein linker Arm, der unter meinem Kopf liegt, sich schon taub anfühlt. Neben mir hat sich der Spaniel eingerollt, schläft nicht, wartet nur ab und springt sofort auf, als ich mich hinsetze, mir meinen Pullover überziehe. Es ist kühler, wieder windiger geworden, tiefe Wolken hängen über dem See. Als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass ich schon zwei Stunden unterwegs bin, dass ich außerdem zwei neue E-Mails habe und einen verpassten Anruf von einer unbekannten, südafrikanischen Nummer, den ich heute Morgen erhalten habe. Ich rufe direkt zurück, aber bekomme nur ein Besetztzeichen. „Na komm …“, ich kraule Phoebes Ohren, dann stehe ich auf und laufe los, um vor dem Regen wieder im Bootshaus anzukommen.
Auf den letzten 500m werden wir nass, der Spaniel läuft dicht neben mir, will nach Hause, aber hält trotzdem mein Tempo. Erst als sie Chris mit einer Kapuze auf dem Deck stehen sieht, seinen Pfiff hört, rennt sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Ihr wart aber lange weg“, er umarmt mich, meinen klammen Pullover, meine nassen Haare, fühlt sich warm an, riecht nach Nivea Creme, nach Rosmarin und Orange. Auf dem Tisch liegen seine Zeichensachen zerstreut, daneben steht Eistee. Er hat seine Haare zusammengebunden, steht aber noch barfuß und in seiner Pyjama-Hose vor mir.
„Ich bin eingeschlafen, es war erst so schön in der Sonne …“

Ich ziehe den Pullover aus, hole mir ein Handtuch auf dem Badezimmer, binde es um meinen Kopf und setze mich zurück an den Tisch, blättere durch seine Skizzen. Er grinst und schenkt mir auch ein Glas ein. „Wenn du magst, könnten wir heute Nachmittag, wenn das Wetter sich wieder bessert, ja mit dem Boot noch mal heraus rudern? Zur anderen Seite des Sees? Vielleicht noch mal nach Pilzen suchen? Dann können wir die heute Abend mit zum Braai nach oben nehmen?“ „Hm …“, mache ich, während ich die zwei E-Mails öffne, die ich vorhin empfangen habe. Ich höre ihn kaum noch, ich lese, bin mir nicht sicher, ob ich richtig verstehe, lese noch einmal.

„Alles okay?“

„Ich hab eine Mail vom Konsulat bekommen. Ich bin auf einer Liste.“

„Für die Rückholflüge? Wann denn?“
„In zwei Tagen …“

..... kapitel 13/21 erscheint am 10.06.2020

Das Cabin Diary ist ein kostenloser Inhalt auf www.linamallon.de

Ich möchte den Blog auch in Zukunft genau so offen und ohne paywalls gestalten, um auch weiterhin dem Grundgedanken zu entsprechen, mit dem ich ihn 2011 gegründet habe. 

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Lina 

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Comments

  • Der Absatz um die fehlende Zeit für die kleinen Sparkles und du diese Ruhe und Zeit im Lockdown wiedergefunden hast trifft sehr meine Sehnsucht. Da ich selbst selbstständig bin, gibt es immer etwas zu tun und ich weiß nicht, wann ich zuletzt guten Gewissens einfach mal nichts-nichts getan habe, mich habe von Außen berieseln lassen um die Kleinigkeiten wieder zu sehen, die man eben nur sieht, wenn man keine Uhr hat. Ich kann es so viel schlechter in Worte fassen als du, aber so oder so, du triffst es perfekt. Danke.

  • Ah ich bin süchtig nach deinen Kapitel. Jeden Tag schaue ich auf dem Blog vorbei und hoffe. 😀 Ich liebe es …mehr will ich gar nicht dazu sagen.

  • Oh wie schön Lina! Konnte die Wärme vom Sandstein und die Luft vor dem Gewitter förmlich fühlen und riechen! Toll! Und ich bin so gespannt wie die Stimmung im nächsten Kapitel ist. Ich wäre hin- und hergerissen glaub ich… 🌻

  • Hach, ich war so aufgeregt, als ich sah, dass es endlich ein neues Kapitel gibt 🙂
    Man fühlt sich wirklich sofort dabei. So als säße man direkt daneben.

    Was für ein Talent.

    Danke 🙂

  • Liebe Lina,
    Wow. Ich liebe diese Einträge so sehr. Vielen Dank, dass du sie mit uns teilst. Irgendwie ist es meine kleine Tradition die immer morgens im Bett zu lesen, wenn die Welt gerade erst erwacht und sie verleihen dieses Momenten eine gewisse Magie (auch wenn das etwas wild klingt). Ich war letztes Jahr in Afrika, und gerade im Moment vermisse ich es ungemein. Durch diese Einträge kann ich wieder auf eine gewisse Art zurückkehren. Danke 😊

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