21 DAYS – CHAPTER 2/21

2/21

laut

Ich ziehe die verspielte Eisentür hinter mir zu, vergewissere mich, dass das Schloss sich einhakt. Hinter mir, zwischen den vielen Fieberbäumen und Akazien, die sich entlang der roten Sandpiste, über die wir gerade gekommen sind, säumen, geht in einer halben Stunde die Sonne unter. Schon jetzt weicht ihre Wärme dem kühleren Wind, der mit jedem Tag ein bisschen früher ankündigt, dass es Herbst wird. Ich stehe barfuß stehe ich in meinen Latschen, das leichte Blumenkleid, fällt um meine Knöchel. Den Reißverschluss meiner großen Strickjacke ziehe ich zu, die Wolle der Ärmel über meine Fingerspitzen, nicht einmal weil mir so kalt wäre, sondern weil ich mich wohl fühle, wenn meine Arme, meine Hände sich in dichtem Stoff vergraben und festhalten können, während die Füße nackt und frei sind.
Er bleibt vor mir stehen, sucht mit den Fingern blind nach dem verknitterten Zigarettenpäckchen in seiner Jeans, zieht es heraus – und fängt dann meinen Blick auf. Noch gut einhundert Meter trennen und von dem langen Holztisch, der Feuerstelle und den Stimmen seiner Familie, mit der wir heute Abend essen. Er nimmt meine Hand, drückt sie kurz, als wartete er ab, ob ich sie in seiner lassen will.

***

„Wir sehen euch am Sonntag wieder, ja?“, hatte seine Mutter gefragt, bevor wir uns verabschiedeten und das Bootshaus erreicht. Heute war Sonntag. Tag zwei der Isolation. Aber statt allein und für mich zu bleiben, finde ich mich mit 12 anderen Menschen an einer langen Tafel wieder, begrüße die Familie, bleibe einen Moment zwischen zwei Bänken stehen, setzte mich dann doch, als sie mir ein Glas Wein in die Hand gibt und mit der Hand auf den freien Platz klopft , weiche vorsichtig aus, wenn jemand Käse, Gemüse oder Salate an meinen Schultern vorbei reicht, halte mich am Glas fest, würde zu gern einen Schluck trinken, aber traue mich nicht. Es wimmelt Worte, die ich nicht verstehe, nur vereinzelt fassen kann, Teller werden platziert, Besteck wandert klappernd um mich, es werden Schüsseln getauscht, die durch die verschiedenen Hände an ihren Platz wandern, Zutaten für den Grill sortiert, mehr Wein wird geöffnet, Brot wird aufgeschnitten, bestrichen und dann auf das Rost gelegt. Was wie Chaos wirkt, ist eine in sich verzahnte Familie. Jeder hier hat eine Aufgabe, kennt sie schon lange, macht sie seit seiner Kindheit und jetzt eben wieder.

„Kann ich … irgendwie helfen?“, frage ich vorsichtig, irgendwie fehlplatziert, als seine Schwester auf zwei Untersetzen ein heißes Gratin auf den Tisch stellt und dann einen großen Schluck Rotwein aus ihrem Glas nimmt. Sie setzt sich neben mich und schüttelt den Kopf. „Bloß nicht, glaub mir, noch eine Hand mehr und das ganze System bricht zusammen.“ Sie nickt in Richtung des Grills, an dem gerade vier Personen diskutieren, mit zwei Zangen zischend Fleisch und Gemüse wenden.

„Fühlst du dich wohl hier?“
„Vor allem bin ich dankbar, dass ich überhaupt herkommen durfte.“
„Und ich finde es mutig, dass du überhaupt hergekommen bist. Auf eine Farm, hunderte Kilometer entfernt von allem was du kennst, zu völlig fremden Menschen und mit meinem Bruder, mit dem ich es übrigens niemals zu zweit so lange in diesem kleinen Bootshaus da unten aushalten würde.“

Alex ist die jüngste der drei Schwestern hier, hat als einzige ihren Freund in Stellenbosch bei seiner Familie gelassen. Wir klicken schnell, stoßen miteinander an. Sie ist am Tisch die ungerade Zahl, die sonst ich bin. Während des Essen fragt sie mich nach meiner Fotografie, nach dem Schreiben, nach meinen Reisen, ich erzähle von Mexico, von griechischen Inseln, will mehr über ihr Studium wissen und dann sie von meinem Buch, er hat ihr davon erzählt.. 

leise

In ein paar Tagen kommt es heraus. In fünf, um genau zu sein.
Gut sechs Jahre, habe ich Notzen für dieses Buch zusammengetragen, habe es immer wieder neu und dann wieder umgeschrieben, den Moment gesucht, in dem es eine finale Richtung bekommt. Die letzten vier Monate habe ich damit verbracht es abzuschließen, dann ins letzte Lektorat, ins Korrektor und schließlich in den Druck zu geben. Dieses Buch, diese 340 Seiten, die ich geschrieben habe und von denen es 256 ins finale Manuskript geschafft haben, ist mein kleiner Traum. Und manchmal fühlt es sich an, als würde er sich leise, wie eine leise Bewegungswelle, auf einem der kleinen, verzweigten Arme des Sees, zerspülen. Einen Moment lang an Größe gewinnen und sich dann ungeachtet, kaum hörbar unter den lauteren Geräuschen, wieder auflösen.

‚Es ist, als hätte man mir meinen Buchmoment genommen.’, schrieb Antonia heute morgen in ihre täglichen Kolumne. Und ich fühle gerade jede Silbe davon. Unsere Bücher werden nicht auf den Tischen liegen, wir werden sie nicht in den Buchhandlungen entdecken, der Zufall wird sie nicht sichtbarer machen, Menschen werden nicht an ihnen vorbeigehen, sie in die Hand nehmen, ihren Rücken lesen, sie dann vielleicht festhalten. Ich werde mein Buch nicht vorlesen können, vor all den Menschen, die es unterstützt haben, ich werde nicht durch die Städte touren, nicht davon erzählen, darüber diskutieren oder sogar ein bisschen gemeinsam feiern, werde es nicht signieren für jene, die es schon gelesen haben, noch wollen. Es wird keinen richtigen Launch geben, keinen Moment. am 03.04. wird das Buch einfach da sein. Bestellbar, mehr nicht. Und das schmerzt. Gerade wieder. Ich hatte mir ein Leben für dieses Buch gewünscht, für all die Gedanken darin. Ich wusste nicht, ob sich das jetzt noch erfüllen würde.

COVID betrifft uns alle, auf einer so viel lauteren, so viel größeren, wichtigeren, globalen, intensiven Bühne. Das hier ist nur mein kleines Gefühl zwischen denen von Millionen anderen, meine eigene kleine Geschichte in diesem Kapitel, das unsere Welt verändern wird. Jeder hat eine.

***

Als wir paar Stunden später wieder im Bootshaus sind, bleibe ich noch eine Weile auf den Stufen sitzen. Ich habe ein letztes Glas Whiskey, das er eben wortlos neben mich gestellt hat, auf meinem Schoß und seine Jacke um meine Schultern gezogen. Es ist Neumond, hier gibt es weit und breit kein anderes Licht, als das die kleine Flamme der Öllampe hinter mir. Ich atme ein. Und lege den Kopf in den Nacken – ins gläserne Schwarz, in den stummen Nachthimmel. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Sterne, noch nie die Sternzeichen oder die Milchstraße so klar gesehen. Je länger ich hinschaue, desto näher scheinen sie zu rücken.

Während ich nach dem großen Wagen suche, denke ich an eine Textzeile, die ich irgendwann mal las, von der ich längst vergessen habe, wer sie mal schrieb, nur die Worte habe ich nie vergessen: so viele Menschen, schauen in diesen Himmel, seit Jahrhunderten, finden den Mond oder den Polarstern, sind fasziniert von der Textur der Lichter. In den Himmel, in den du gerade schaust, hat auch schon Goethe, schon Rilke, schon Bukowski geschaut und einen leisen, eigenen Moment gefunden.“

So viel ist anders, so viel verschwunden, so viel entsteht gerade. Aber dieser Himmel über mir, bleibt beständig, macht nie auf sich aufmerksam, ist für mich wie ein Feuerwerk, das keinen Laut macht, das nicht aufhört, nicht ausbrennt, das man findet, wenn man nur den Kopf in eine andere Richtung dreht ..


... weiter zu kapitel 3/21

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Comments

  • Soooooo schön. Ich habe mich so sehr auf das nächste Kapitel gefreut und freue mich jetzt wieder auf das nächste. Da stehen so viele tolle Sätze wie „was wie Chaos wirkt, ist eine in sich verzahnte Familie. Jeder hier hat eine Aufgabe, kennt sie schon lange, macht sie seit seiner Kindheit und jetzt eben wieder.“

    Ich folge dir schon so lange, lese dich schon so lange und jedes Jahr komme ich an den Punkt, wo ich denke, wahnsinn – sie wirkt so, als hätte sie jetzt ihren „Höhepunkt“ gefunden, als wäre das, was du gerade tust, schon ganz perfekt und könnte nicht noch besser werden. Und dann kommt das nächste Jahr und ich weiß nicht, wie du es machst, aber deine Fotos werden noch besser und schöner und emotional mitreissender und deine Texte noch bildhafter, treffen noch mehr ins Herz und noch wortgewandter. Es ist so schön, dass wir deine Reise und deine Entwicklung so miterleben dürfen. Danke. <3

  • Liebe Lina,
    nachdem ich gestern dein Buch an einem Tag verschlungen habe, konnte ich es gar nicht abwarten, dass hier Kapitel 2 online geht. Danke, dass du uns diese merkwürdige Zeit durch deine Beiträge und dein Buch versüßt.
    Zu deinen Gedanken zu dem Leben deines Buches: Es tut mir aufrichtig leid. Ich kann mir vorstellen, dass du dir das ganz anders gewünscht und erhofft hast. All die Vorfreude, die nun im Nichts endet. Aber – an den Reaktionen deiner Leser zeigt sich ja, dass das Buch auch ohne das ganze „Drumherum“ ein voller Erfolg ist. Wer kann schon von sich sagen, dass er während einer Phase, die geprägt ist von Ausgangsbeschränkungen und unvorstellbaren Restriktionen ein Buch rausgebracht hat, das direkt ein SPIEGEL Bestseller wurde? 🙂
    Und falls du eine Lesetour nachholst – glaub mir, ich bin dabei. Und viele, viele andere auch. Ich brauche unbedingt noch deine Signatur und eine kleine Widmung auf der ersten Seite.
    Von Herzen liebe Grüße und ich freue mich auf morgen
    Caro

  • Liebe Lina,
    Danke dafür, dass du deine Gefühle und Gedanken während dieser verrückten Zeit mit uns teilst. Dieser Gedanke der ungeraden Zahl beschäftigt mich auch schon lange. Du hast es im Buch und auch hier gut auf den Punkt gebracht.
    Ich wünsch mir dass dein Buch trotz der seltsamen Zeit und des Releases, der völlig anders gekommen ist als geplant, die Aufmerksamkeit bekommt die es verdient. Wunderschön geschrieben und viele Zeilen, in die ich mich so gut hinein versetzen konnte und die eigene Gefühle besser beschreiben können, als man es selbst kann! Ich freu mich auf die nächsten Kapitel! Und natürlich auf die Buch Tour 🙂
    Liebste Grüße, Caro

  • Wirklich schön! Du hast diese ganz besondere Tiefe in deinen Texten. Und man spürt einfach, dass sie nicht aufgesetzt, nicht oberflächlich ist (so nach dem Motto happy vibes auf Zwang oder ich schreibe mal „wohl dosiert und kontrolliert und ganz kurz“ über meinen Nebenschmerz). Du bist einfach Echt, das ist so zu spüren!

  • Liebe Lina,

    Da ich hier in der Schweiz sitze und sie im Moment doch krasse Lieferungsschwierigkeiten haben bei der Post, warte ich immer noch sehnsüchtig auf dein Buch. ❤️ Diese paar Ausschnitte aus deiner persönlichen Erfahrung in dieser doch so besonderen Zeit, geben mir immer ein Grund zur Freude aufs nächste Kapitel. Du hast so eine besondere und schöne Art deine Geschichten zu erzählen, dass sie einen so fesseln und man gleich am liebsten das Ende erfahren möchte ?

    Ich danke dir von ganzen Herzen, dass du deine besondere Geschichte mit uns teilst und du uns immer wieder einen Grund gibst und auf etwas Besonderes zu freuen . ?

    Mach weiter so ! Und DANKE für ALL DAS ! ?❤️

  • Liebe Lina,

    Da ich hier in der Schweiz sitze und sie im Moment doch krasse Lieferungsschwierigkeiten haben bei der Post, warte ich immer noch sehnsüchtig auf dein Buch. ❤️ Diese paar Ausschnitte aus deiner persönlichen Erfahrung in dieser doch so besonderen Zeit, geben mir immer ein Grund zur Freude aufs nächste Kapitel. Du hast so eine besondere und schöne Art deine Geschichten zu erzählen, dass sie einen so fesseln und man gleich am liebsten das Ende erfahren möchte ?

    Ich danke dir von ganzen Herzen, dass du deine besondere Geschichte mit uns teilst und du uns immer wieder einen Grund gibst und auf etwas Besonderes zu freuen . ?

    Mach weiter so ! Und DANKE für ALL DAS ! ?❤️

  • Liebe Lina,
    ich verliere mich total in deinen Zeilen, deinem Schreibstil und der Reise, auf die du mich und all deine Leser*innen mitnimmst. Vielen Dank für diese Einblicke und Eindrücke!
    Das Buch ist vorbestellt und ich kann es kaum erwarten mit dem Lesen zu beginnen!
    Von Herzen alles Liebe!

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