21 days – chapter 1/21

1/21

"Ich werde ab jetzt, ab heute nicht wieder in Kapstadt aufwachen. Die Wahrheit ist sogar: Ich weiß nicht, wann ich überhaupt wieder in Kapstadt aufwachen werde."

Ich weiß nicht, warum mir genau dieser Gedanke durch den Kopf geht, als den Herd anzünde und den Wasserkocher aufsetze. Ich habe mich in eine der Wolldecken eingewickelt, die ich in einem der Schränke fand. Als ich die Türen öffnete, quietschten sie, wurden immer lauter, je vorsichtiger ich versuchte den Widerstand des Scharniers zu überwinden. Es ist der erste Tag des nationalen Lockdowns, gerade einmal 06.32 Uhr, die Stimmung um mich wirkt blau, wortlos und klamm. Fast ungeduldig still, abwartend, darauf dass die Sonne in ein paar Minuten endlich aufgehen würde. Die feste, warme Konstante, vielleicht die einzige gerade. Als der Kessel leise zu pfeifen beginnt, nehme ich ihn vom Herd, ersticke die Flamme und gieße das siedende Wasser auf den Kaffee, den wir gestern noch oben im Familienhaus der Farm, das gut 10 Minuten Autofahrt entfernt liegt, gemahlen haben und verschließe dann die Kanne mit der Presse, die ich in ein paar Minuten langsam herunterdrücken werde. 

Elektrizität gibt es hier nicht – gekocht wird mit Gas, Licht machen wir uns durch kleine Öllampen, Kerzen und Solarlaternen. Den Generator starten wir nur, um den Kühlschrank auf Temperatur zu halten. Alle zwei Tagen können wir ins Haupthaus fahren, dort Akkus und Powerbanks aufladen. Dort gibt es auch Wifi – und nur dort. Der Bildschirm meines iPhones zeigt mir einen Balken an. Edge. „Dort hinten, wo der Sandstein anfängt, diese kleine Erhöhung, siehst du die?“, hatte er gestern gefragt und mit dem Finger auf eine Fläche ungefähr 400m entfernt vom Haus gedeutet, als wir den Pick-Up parkten. „Dort solltest du immerhin ein bisschen Empfang haben.“ Er zeigt auf die Gummistiefel, die aufgereiht am Hauseingang stehen. „Allerdings brauchst du die hier, denn direkt dort drüben, bei den zwei weeping willows, gibt es eine kleine Quelle, die gerade im Herbst durch das trockene Gras sickert und die Umgebung hier flutet..“

16 hours earlier

Über eine kleine Holztreppe gelangen wir auf das Sonnendeck des Bootshauses, lange, schlanke Balken reihen sich über gut 10 Meter aneinander, bilden eine breite Fläche und werden von einem Geländer gefasst, dessen einst dunkelrote Farbe langsam zu blättern beginnt. „Das Holz braucht mal wieder ein bisschen Liebe“, sagt er, als er meinem Blick folgt. „Ist lange her, dass ich hier was gemacht habe.“ Er sucht nach dem richtigen Schlüssel, findet ihn und zieht dann mit einem kräftigen Ruck die lange, behäbige Glastür auf. Drei Zimmer gibt es im Inneren, die komplett in warm lasiertem Holz verkleidet sind. Ein Schlafzimmer mit Blick auf den See, der nur 20 Meter vor uns liegt und noch an Fläche und Tiefe gewinnen wird, je näher wir den Wintermonaten kommen, ein großes Wohnzimmer mit offener Küche und ein zweites, kleineres Schlafzimmer, in dem wir unsere Koffer abstellen.
Die Betten sind mit weißer Baumwolle bezogen, die einen feinen, weichen Kontrast zur restlichen Einrichtung bildet.
Kohleskizzen in messingfarbenen Rahmen, Auszüge aus alten Botanikbüchern und Schwarz-Weiß Fotografien hängen an den Wänden, auf den abgezogenen Dielen liegen Ornament-Teppiche mit Fransen an den Enden und jedes Möbelstück, wie die zwei großen Holzsessel im Eingangsbereich oder der kleine Tisch, auf dem allerlei entzündbare Öllampen stehen, scheint eine Geschichte zu haben?
„Magst du es?“ Ich nicke, ziehe meine Jacke aus und lege sie über die Lehne.
„Ja, sehr… wer hat das hier gemacht?“
Er zuckt mit den Schultern und fasst in seine Hosentaschen. „Ich.“
„Du? Du hast das hier gebaut? Und eingerichtet?“
„Also vor ein paar Jahren. Jetzt hat meine Mum hier ein bisschen verändert…das da zum Beispiel“, er zeigt auf die geklebte Banderole an der Eingangstür, die mir bisher noch nicht aufgefallen war, zwei Vögel tragen das Wort „Home“ in ihren Schnäbeln.
Ich muss lachen, als er mit den Fingern über die feste, schwarze Folie streicht und den Kopf schüttelt.
„Sie kommt eigentlich nur manchmal zum Lesen her – oder mit der Familie am Wochenende, wenn sie grillen oder fischen und die Sonne hier oben auf dem Deck genießen wollen. Und irgendwann hat sie dann angefangen zu dekorieren – und ich wollte ihr den Spaß nicht verderben.“
Er zeigt auf zwei weiße Buchstützen in einem der Regale, zwei gedrechselte Hundepos. „Das da ist auch neu…“

Während ich mich umsehe, noch ein bisschen fremd fühle und langsam anfange meinen Koffer auszupacken, beginnt er ein paar der Lebensmittel einzuräumen, die wir aus dem Haupthaus mit hierhergenommen haben. Dann schenkt er mir ein Glas Shiraz ein, das ich mit ins Badezimmer nehme. Ich nehme einen Schluck und ziehe mir den Pullover über den Kopf. Erst jetzt, wo ich einen Moment zur Ruhe komme, merke ich, dass mir die Fahrt. Die letzten Tage und noch etwas anderes in den Knochen steckt. Ich drehe die Dusche heiß auf.

Was wir kontrollieren können..

Der Nebel, der sich über die Oberfläche und durch die Nacht zu uns getragen hat, hängt in den Zwischenräumen des Geländers fest, klebt an den Spinnweben und sinkt zu einem Tropfen zusammen. Es ist nicht seine Entscheidung. Nur eine Reaktion.

Ich habe nicht viel geschlafen. Zu viele Gedanken, zu viele Zweifel, die ich sorgfältig und mühsam ausräumte, nur um sie ein paar Minuten später wieder zuzulassen. Der Kaffee ist ein bisschen zu stark geworden – aber er hilft gegen den bekannten Kopfschmerz, gegen die Müdigkeit, die ich abschütteln will. Immer wieder schaue ich auf mein iPhone, immer wieder wechsle ich den Standort, hoffe auf ein Signal und baue mit jedem Balken, der kurz auftaucht und wieder verschwindet, ein bisschen mehr Anspannung in mir auf. Ich fühle mich wie ein gestresster, eingesperrter Millenial. Absurd. In dem Moment, in dem mir etwas genommen wird, auf das ich sonst freiwillig, ständig verzichte, das mir nie wirklich wichtig erscheint, sondern selbstverständlich, manchmal sogar überflüssig – wird es notwendig. Wirklich?

„Hey …“, zwei Arme schlingen sich um meine Schultern, dann spüre ich einen Kuss und seine Wange, die auf meinem Kopf lehnt. „Alles ok?“ „Ja.“, sage ich leise, ohne mich umzudrehen. „Sicher?“ „Kennst du das Gefühl, dass es dir schwerfällt bewusst stillzustehen? Dich nicht zu bewegen? Nichts zu entscheiden – nur anzunehmen?“

Erst sagt er nichts, hält mich nur ein bisschen fester. „Bereust du, dass du mitgekommen bist?“

„Nein, nein gar nicht. Es war die richtige, die sorgfältigste Entscheidung. Und ich bin dir dankbar, dass du mich hier her eingeladen hast. Wirklich.“ Jetzt wende ich mich ihm zu, umarme ihn und verschränke meine Arme hinter seinem Rücken. „Ich bin nur ein bisschen verloren zwischen den Kontrasten. Das hier, dieser Ort, die Ruhe, fühlt sich so richtig an. Gerade jetzt. Aber ich hab Angst, dass die Welt da draußen sich ohne mich so schnell weiterdreht, dass mir meine kleine, eigene, völlig entgleitet. Mein Buch, mein Job, Maggie und meine Pläne in Kapstadt, meine Zukunft. All das… und darum klammere ich mich an ein dummes Wifisignal, als wäre es mein Rettungsanker, mein letztes Stück Kontrolle. Es ist, als wäre alles da draußen so überwältigend laut in meinem Kopf, obwohl ich es hier nicht mal hören, lesen oder mitbekommen kann...“

„Ich weiß genau wie du dich fühlst“, antwortet er leise. „Ich hab mich auch gefragt, ob ich hätte in Kapstadt bleiben sollen. Näher dran. Die halbe Fahrt hab ich gezweifelt. Ich glaube so geht es vielen. Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie nur drei oder vielleicht ein paar mehr Wochen endgültig sind, nimmt uns gleichzeitig jede andere Option. Das kennen wir nicht. Und darum macht es uns Angst." Ich nicke, sage nichts, höre ihm nur zu, mag wie er ausspricht, was ich sagen will.

„Aber in Kapstadt zu bleiben wäre eine egoistische und zu noch völlig sinnlose Entscheidung gewesen. Jeder, der die Stadt verlässt, entlastet sie für all jene, die sie nicht verlassen können. Jeder der bleiben muss, steht trotzdem mit ihr still. Es ist ja so: ich könnte nichts für meine Firma, für meine Mitarbeiter, für unsre Projekte oder Sicherheit tun, wenn ich dort wäre. Ich bin nicht ohne Kontrolle, nur weil ich nicht vor Ort bin. Wir sind alle gerade gemeinsam ein bisschen hilflos – einen Moment lang. Und das ist okay.“

Er fasst nach meinem Gesicht und sieht mich an. „Gibt es gerade irgendetwas, das du für deine Welt tun könntest, wenn du vor Ort, in Hamburg wärst. Würde es irgendetwas ändern, wo auf der Welt du gerade bist?“ „Nein. Nicht wirklich. Nicht mal mit Wifi.“ „Gibt es irgendjemanden, für den du hättest besser sorgen können, als du es getan hast? Jetzt gerade? Oder in den nächsten drei Wochen?“ Ich überlege lange. Dann sage ich: „Nein. Ich habe mich um alles gekümmert, so gut ich konnte.“ Er hatte recht. Wir alle hatten gerade nicht viel in der Hand. Es hatte keinen Sinn über Entscheidungen nachzudenken, die wir nicht in der Hand oder aber trotz allem Aufwand gerade kaum Auswirkungen hatten.

Was wir verändern konnten, waren die kleinen Dinge, wie wir auffingen, was auf uns zukam, wie lange wir es festhielten und mit wie viel Kraft, mit welchem Ziel oder Gefühl wir schließlich selbst den Ball werfen – oder einfach rollen lassen.


..... weiter zu kapitel 2/21

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Comments

  • Ich liebe wie du schreibst. Es ist fast als würde man einen Roman lesen und man möchte unbedingt wissen, wie es weiter geht. Krass zu wissen, dass das nicht ausgedacht, sondern die Realität ist! Ich hoffe du bist gut zu Hause angekommen und nimmst diese Erfahrung als etwas Wertvolles mit! Davon kannst du irgendwann noch deinen Enkeln erzählen. Ich freue mich schon dein Buch zu lesen 🙂 Viele Grüße, Eva

  • Du schreibst so bildlich, schaffst eine eigene Welt und man geht total in deiner Geschichte auf. Und man lächelt, wenn einem dann wieder einfällt, dass das alles keine Fiktion ist, sondern deine Realität, an der du uns teilhaben lässt. Danke.

  • Jedes Mal aufs Neue schaffst du es mit deinen Worten mich in eine andere Welt zu versetzen. Man verschlingt förmlich alles und hat wirklich das Gefühl jedes noch so leichte, beschriebene Lüftchen hautnah mitzuerleben. Danke für diesen Kurzurlaub in deine Welt!

  • Würde dieser Text jetzt schon in einem Buch verfasst und zum Verkauf stehen, ich würde das Buch sicher binnen weniger Tage durchgelesen haben. ❤️

  • Ein kleines bisschen als wäre man auch in Mpumalanga. Du schreibst so „nah dran“, so intim, ich weiß nicht, wie ich es besser sagen kann. Du bist diejenige, die gut mit Wörtern ist. Danke, dass du sie mit uns teilst.

  • Danke für deine wundervollen Bilder, Worte und in Schrift verpackte Gedanken, Gefühle und Momente. Sehr berührend. Immer und gerade in Zeiten wie diesen. DANKE!

  • So wundervoll geschrieben! Ich habe gestern einer Freundin am Telefon erzählt, dass ich gerade deinen Blogartikel gelesen habe und ihr beschrieben worum es geht. So lustig, also würde ich dich wirklich kennen 🙂 So wie du schreibst und die Leser mitnimmst, fühlt es sich aber tatsächlich so an.
    Das liebe Lina, ist wirklich ein so großes Talent!

  • Wow Lina!
    Also ich liebe ja deinen Schreibstil sowieso schon seh rund auch deine Fotografien bisher, aber die Fotoreihe zu den Diaries hier und die, die du auf Instagram teilst, sind noch mal ein anderes Kaliber. Sie ziehen einen so sehr in den Bann und geben mir ein ganz besonderes Gefühl von Inspiration. Danke dafür. Das wird grad seeeehr wertgeschätzt. Von mir und meinem Herzchen.
    Alles Liebe

  • Toll, Lina!

    Wahnsinnig toll geschrieben, obwohl nicht wirklich etwas passiert ist es total spannend und du schaffst es die Geschichte auf eine Art und Weise auszuschmücken, dass man sich total darin verliert…
    Und die Bilder sind auch ein Traum!?

  • Liebe Lina, ich liebe deinen Schreibstil, deine Bildsprache, diese Texte. Ich bin so froh, dass es hier auf dem Blog wieder Einträge gibt (vor allem, dass es so wunderbare wie der hier sind). Dein Blog war mir immer schon einer der Liebsten – du nimmst uns einfach mit – danke dafür!

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