LIFE: ABOUT THE BIGGER PICTURE || DAS GROSSE GANZE SEHEN

Ich nehme die zwei Stufen mit einem Schritt, knalle den Rucksack auf den Stuhl, der gleich links neben der offenen Tür steht. Ich muss nicht mal hinsehen, die Bewegung funktioniert automatisch, Muskelgedächnis, mal setze ich ihn nur ab und frage, was es zu essen gibt, mal schmeiße ich ihn hin und weiß nicht, was ich mit dem Rest von mir machen soll, so wie heute. "Na Kind, wie war dein Tag?", fragt sie mit ruhiger, beschwingter Stimme, auf die ich anspringe wie ein Schießhund, der sonst kein Ziel hat. "Wie er war? Furchtbar." 
Und wie furchtbar er wirklich war, erzähle ich dann meistens 20 Minuten lang in monologisierten Absätzen, male aus, steigere mich rein und finde in meiner Oma einen geduldigen Zuhörer.

 

Früher fand ich das stoisch und unterstellte ihr immer wieder mangelnde Teilnahme an den kleinen oder großen Themen, die mich beschäftigten. Heute weiß ich, dass sie einfach nur das Kissen war, in das ich brüllte, wenn mir mit 15-Jahren die Schule, Freundinnen, meine Eltern, also schlicht das Leben, zu viel war. Sie dämpfte einfach Wut oder Knall für den Moment, in dem alles groß war und füllte mir ganz nebenbei mein Mittagessen auf. Ich weiß noch, wie wütend es mich immer machte, wenn sie auf meine Ausführungen mit "Na, na – das wird schon wieder", antwortete und im gleichen Atemzug fragte, ob ich noch mehr Soße haben wollte. Natürlich wurde es wieder, aber das wusste ich damals ja noch nicht und es fühlte sich auch nicht danach an. Wenn du mittendrin steckst, dann wird es nie irgendwas, dann ist es. Vor allem groß, schwer und final. Das war vor 12 Jahren so. Und ist auch heute noch nicht so viel anders.

 


Sogar die Themen sind irgendwie gleich geblieben, es sind nur noch ein paar dazugekommen. Job, Freundschaften, Jungs, Familie, Zukunft, Steuerbescheide.  

"Du musst immer das große Ganze sehen. Der Ärger allein ist morgen doch längst wieder vergessen..."
"Ist er sicher nicht..",
antwortete ich meistens. Und spätestens nach 3 Tagen war er es trotzdem. Vielleicht, weil die Probleme damals überschaubarer, trivialer waren. Aber auf der anderen Seite: warum halten wir unsere jetzigen Streits um Loyalität, Vertrauen oder Gerechtigkeit für so viel monumentaler?

Die Mechanik eines Streits, gerade auf persönlicher Ebene, aber auch in  beruflichen Dingen, ist immer die Gleiche. Was nach der Wut bleibt, ist nie der Ärger selbst, meistens nicht einmal mehr der eigentliche Streit, sondern vor allem Trotz, verletzter Stolz und ein gekränktes Ego, das wir nicht selten für wirklich verletzte Gefühle halten, die wir dann mit uns herumschleppen oder vielmehr vor uns hertragen, manchmal sogar wie eine heldenhafte Kriegsverletzung. Wer die größere Wunde hat, der hat den größeren Kampf gefochten. Und trotzdem nicht gewonnen. 

 

Als ich ein Teenager war, sahen andere für mich das größere Bild, fingen die ersten, starken Worte ab und bewahrten mich bei einem guten Mittagessen vor Kurzschlussreaktionen. Als ich älter wurde, als man mir eigene Wohnungsschlüssel und ein Smartphone in die Hand gab, musste ich lernen es für mich zu finden und daran festzuhalten. Und ich würde noch immer nicht sagen, dass ich es immer richtig gut kann.

Das große Ganze sehen, auch wenn es gerade nicht zu sehen ist. Das klingt so unheimlich erwachsen, so überlegt und vernünftig, fast schon fälschlich christlich. Und wer will sich schon an Tugenden halten, wenn er wütend, erschöpft oder einfach nur frustriert ist? Ich weiß noch genau, wie oft ich mich gefühlt habe, als würde ich eher an meinem Ärger ersticken, als ihn loszulassen, wie oft ich dann am Ende nur noch mehr um mich geschlagen habe, als die Ruhe zu bewahren, die sich so aufgezwungen anfühlte.

 

"Ich halte ja nicht viel vom Großen Ganzen, so richtig sehe ich das vielleicht, wenn ich 60 bin. Aber jetzt doch nicht. Warum soll ich überlegen, was mich auf lange Sicht glücklich macht, wenn ich jetzt gerade glücklich sein will? Wenn die Leute nun mal im Moment nicht gut für mich sind, wenn der Job nicht passt, wenn ich gerade einfach was anderes will, dann eben weg damit. Ich will nicht ewig aushalten und mich aus falscher Vernunft unglücklich machen."  

Es hat ewig gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich es völlig falsch angegangen bin. 

The bigger picture – existiert nicht isoliert außerhalb des Ärgers oder Streits, ist keine Insel, es liegt nicht irgendwo, ganz rational hinter den Emotionen, ich muss sie nicht erst zur Seite schieben, um es zu finden, ich muss es einfach nur trotzdem sehen oder es zumindest vor Augen haben, wenn ich mich entscheide.

Die dritte miese Arbeitswoche zum Beispiel, ohne Aussicht auf morgige Verbesserung, dazu ein Streit mit einer Kollegin, ist nicht die vermeintliche finale Bestätigung alles ganz pinteresque hinzuschmeißen, because u only live once and should do what makes you happy.
Selbst wenn du glaubst mit einem #micdrop das Büro zu verlassen, ist die Punchline meistens nicht die, dass dein Partner, dein Chef oder deine Kollegen keinen Ersatz für dich finden, sondern dass du diejenige bist, die für den nächsten Monat ein neues Projekt braucht oder sich – selbst wenn du noch andere im Rennen hast – vielleicht die Mitarbeit an einem großartigen zu vorschnell verdorben hat.

Oder einen Freund, den du mit allen Kraft und harten Worten von dir stößt, weil er dir für den Moment unter die Haut gegangen ist. Den du glaubst du bestrafen oder zu belehren, wenn du dich ihm entziehst. Während du nur dich selbst um die gemeinsame Zeit bringst, die du eigentlich schon 72h später wieder vermisst.

Frag dich nicht, was du anderen verwehrst, um vermeintliche Grenzen zu ziehen oder Standpunkte zu festigen, die nur du selbst siehst, frag dich, was du dir nimmst, vielleicht sogar final. Und ob es das wert ist.

Gar nicht so groß, das Ganze.

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Comments

  • Sehr schön geschrieben liebe Lina, man macht sich das Leben echt ab und zu selbst schwer. Aber wenn man anfängt in diese Richtung zu denken, erspart man sich ganz viel Ärger (im Endeffekt über sich selber) <3

  • Toller, wahrer Text!
    Du schreibst über die kleinen,aber dennoch sehr relevanten Dinge.
    Als mittlerweile 4 jährige treue Leserin kann ihn nur sagen: weiter so. Das Große Ganze ist da…und du machst es jeden Tag ein bisschen größer.
    P.s.schönes Kleid, steht dir wunderbar!

  • Danke! Das ist genau die Message, die mich schon in den letzten Tagen viel beschäftigt hat. Leider habe ich immer wieder mit Depressionen zu kämpfen, weshalb ich jeden Makel, Streit oder jede miese Situation als Endzeit-Szenario empfinde. Schnell kann ich mich in negative Dinge reinsteigern, mich in Rage reden und gegen alles und jeden schießen. Man kann sich denken, wer hier der eigentliche Verlierer ist. Ich habe mir damit schon einige Chancen und nette Abende versaut, weil ich stattdessen wiedermal lieber trotzig war oder mich allein in meinem Selbstmitleid gesuhlt habe. Dabei ist gar nicht alles schlecht und viele Dinge, über die ich mich so extrem aufgeregt hatte, waren es im Endeffekt gar nicht wert. Darum sehe ich mir nun lieber immer das große Ganze an, bevor ich wieder zu impulsiv handele oder mich zu sehr mit negativem befasse.

  • Das große Ganze zu sehen fällt mir persönlich nie leicht. Viel zu schnell steigere ich mich in Sachen hinein. Im Nachhinein stellt sich das meistens als unnötige Energieverschwendung heraus. Und darüber könnte man sich wieder ärgern. Diesen Krieslauf zu durchbrechen ist ständig ein Hürde für mich…
    Ein echt toll geschrieben Text, der mich echt zum Nachdenken angeregt hat. Und das Kleid steht die ausgezeichnet Lina! 🙂

  • „Frag dich nicht, was du anderen verwehrst, um vermeintliche Grenzen zu ziehen oder Standpunkte zu festigen, die nur du selbst siehst, frag dich, was du dir nimmst, vielleicht sogar final. Und ob es das wert ist.“ – Das ist so ein schönes Fazit! Oh ja, wie schwer fällt es zu erkennen, was wir uns eigentlich selbst verwehren obwohl wir in dem Moment glauben den jeweils anderen mit der Handlung bestrafen zu können. Am Ende sitzen wir alleine da und fragen uns ob der Streit wirklich so groß war und diese finalen Schritte rechtfertigte.

    Danke für diesen reflektierenden Text und wer liebt sie nicht, die Oma, die geduldig zuhört und einem sagt, dass man erst einmal in ihr Alter kommen müsse und dass die Welt dann ganz anders aussehen würde. Ich bin gespannt!

    Liebe Grüße

    Lamila

  • Liebe Lina, wer hätte gedacht, dass ein „simpler“ Blog (der sich durch die grandisose Autorin doch so sehr von den vielen anderen – zumeist wirklich simplen – Blogs abhebt) einen tatsächlich zum Nachdenken anregt? Ich sicher nicht, bis ich durch Zufall auf deine Seite gestoßen bin. Ich glaube, eigentlich wollte ich ein Produktreview lesen. Eben das, was ich von Blogs erwartet habe.
    Aber ich bin hängen geblieben und verfolge die Gedanken, die du mit uns teilst, schon eine Weile. Und in vielen deiner Posts finde ich mich wieder, das tut gut. Dadurch habe ich mich damit auseinander gesetzt, dass ich vielleicht doch sensibler bin als die meisten, dass ich mich auch sehr gut in Kleinigkeiten reinsteigern kann. Und vor allem: Dass es gar nicht schlimm ist. Wir sind gut, wie wir sind. Danke dafür.

  • Liebe Lina,
    du hilfst mir so oft mit den Worten die du schreibst oder sagst! Dein Blog ist ein bisschen wie ein „Lernen fürs Leben Blog“
    ich habe gelernt mich selbst zu reflektieren oder allgemein alles erstmal zu reflektieren, bevor man verzweifelt, ausrastet oder vorschnell Entscheidungen trifft, die man schnell wieder bereut! Neulich erst hatte ich einen Streit mit meinem Freund. Er hat mich meiner Meinung nach unfair behandelt. Ich wäre am liebsten sofort ausgerastet, wie ich es sonst immer getan habe. Doch dann habe ich mich an deine Worte erinnert, bin ruhig geblieben & habe mir die Fragen gestellt. Ich habe dann alles erstmal ruhen lassen & ich konnte im Nachhinein den Streit viel besser lösen!
    Danke Lina, dass du über die wichtigsten Dinge schreibst & damit so hilfreich für viele bist!!!!

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